… geht es mit unserer Gesellschaft?
Eben bekam ich zufällig das aktuelle Jahrbuch jener Handelsakademie zu Gesicht, in der meine Schwester ihre Jugend verbringt: Interessiert blättere ich das überraschend dicke Büchlein durch, pralle aber geschockt zurück. Denn in dem Büchlein sind auch alle Klassenfotos abgedruckt. Und was müssen meine großen traurigen Augen sehen? Nein, kein lustiges Jungvolk hochmotivierter zukünftiger Bankmanager und angehender Fondsverwalterinnen. Nein, ich blicke in die entstellten Gesichter von überschminkten, hochgestylten Paris Hiltons und in die verbrauchten Fratzen von Jünglingen, die Hosen in der Kniekehle, und nur mehr die Kraft, um bis zum nächsten Dealer zu wanken.
Schockiert blättere ich weiter – vielleicht war dies ja nur diese eine Klasse – die anderen müssen doch eine Zukunft haben. Meine Hoffnung wurde jäh enttäuscht. Selbst die ersten Jahrgänge erinnern mehr an ein Gewerkschaftstreffen von Billighuren und Straßenstrichern als an das Klassenfoto eine höherbildenden wirtschaftlichen Schule. Man blickt in Augen, die so schwarz umrandet sind, dass kaum noch etwas vom Gesichtchen zu erkennen ist. Man sieht Kleidung, die selbst Sharon Stone in ihren besten Jahren hätte erröten lassen – von kindlicher Unschuld weit entfernt. Durchgehend – von der ersten bis zur fünften Klasse – trifft man nur ganz selten auf Personen, denen man auch zutrauen würde, den Unterschied zwischen Aktie und Anleihe zu kennen, oder zwischen Kredit und Sparbuch. Und diese verstecken sich schamhaft in der hintersten Reihe, ducken sich unwillkürlich, um in der Menge von Lippenstift, Mascara und heraushängenden The-Simpsons-Boxershorts nicht aufzufallen. Wohl aus Angst, dem vorherrschenden Tokio-Hotel-Ideal nicht zu genügen.
Doch halt, hebt stolz eure Schultern, blickt der Kamera mit einem erhabenenen Blitzen in den Augen in die Linse. Denn ihr seid es, die unsere Zukunft sind. Ihr, die ihr eure Zeit vor dem Aktienbericht anstatt dem aktuellen Bravo verbringt, werdet erfolgreich sein. Nicht die anderen traurigen Gestalten, die zwar jetzt hipp, trendy oder megacool (sagt man das noch, ich bin da nicht mehr up-to-date?) sein mögen – die werden euch in einigen Jahren bestenfalls den Kaffee ins Eckbüro bringen, schlimmstenfalls mit resignierter Stimme "Eine Apfeltasche dazu?" fragen.
Etwas traurig wegen dem Untergang der Jugend krame ich nach den Klassenfotos aus meiner HAK-Zeit, voller Angst, dass es dort so ähnlich war. Aber nein, damals war alles besser. Kaum eine Spur von Make-up, wenn, dann äußerst zurückhaltend aufgetragen. Keine Hose auf Halbmast. Und alle Kniee züchtig zusammengehalten, nicht aufreizend überschlagen. Jedem jungen Mann sieht man an, dass er gerne einen Anzug für das Klassenfoto tragen würde, die Damen einen schicken Hosenanzug a lá Angela Merkel. Die jungen Gesichter strahlen vor Motivation, vor Zukunftsfreude und Hoffnunf. Von jedem meiner alten, verblichenen Klassenfotos aus dem letzten Jahrtausend blicken einem zukünftige Bestverdiener entgegen, geborene Aufsteiger. Damals waren es noch gute Zeiten.