Natürlich schreibe ich in meinem Tagebuch nicht nur über das Projekt (sonst hätte ich nie die 32 dicken Bände vollgekriegt, die hinter mir im Regal stehen); ich schreibe auch über alle anderen wichtigen und weniger wichtigen Vorkommnisse zwischen Hagenberg und Bimberg. Und es ist nun endgültig Zeit, dass ich endlich mal einen meiner Einträge über Cypher (wertende Adjektive mit Absicht weggelassen) veröffentliche. Vor allem weil er versprochen hat, in Kürze auch etwas aus seinem eigenen Tagebuch zu veröffentlichen.
Hagenberg, am 27. Mai 2005
Liebes Tagebuch,
Cypher ist Gerüchten zufolge nur dank eines Austauschprogramms mit einer ukrainischen Fachklinik für geisteskranke Kätzchenmörder an die Fachhochschule gekommen.
So hat er diese Woche mithilfe seines Brief- und Busenfreundes George W. vierzehn zum Tode verurteilte Texaner nach Hagenberg einfliegen lassen, weil er, wie er sagt, „Mal selber ein paar abbrutzeln lassen will“;. Er hat zwischen Badezimmer und Garderobenschrank seine eigene kleine Green Mile abgesteckt, an der er stündlich einen seiner zitternden Verurteilten nackt an einer Hundeleine entlangführt und hämisch „Dead man walking, dead man walking“; brüllt. Wenn daraufhin sein gepeinigter Gefangener flehend und weinend zusammenbricht, wird er mit Fußtritten und Ohrfeigen weitergetrieben. Ich weiß das, weil ich von Cypher unter Androhung körperlicher Gewalt gezwungen wurde, zuzusehen.
Ich selbst, geliebtes Tagebuch, habe nun auch noch meine zweite Niere sowie meine Leber verkauft, um ein weiteres Fleckchen Regenwald am Amazonas vor den bösartigen Klauen multinationaler Konzerne zu retten. Ich brauche keine inneren Organe, mich hält allein der Gedanke an die unbezahlbare Fauna und Flora, die ich so retten konnte, am Leben. Außerdem habe ich mehrfach versucht, das Leben eines der armen Schweine in Cyphers blutrünstigen Fingern zu retten, indem ich mein eigen Leben im Austausch anbot. Aber die Bestie in Menschengestalt hat nur laut lachend abgelehnt und gemeint, ich komme noch früh genug dran …